
Kann ein Kapazitätsmarkt die Stromversorgung sichern?
Was ist ein Kapazitätsmarkt?
Der Begriff Kapazitätsmarkt bezeichnet einen Strommarktmechanismus, bei dem nicht nur die tatsächliche Stromproduktion bezahlt wird, sondern auch die Bereitstellung von Leistungskapazität – also die bloße Einsatzbereitschaft von Kraftwerken. Im heutigen deutschen Energy-Only-Markt (EOM) erhalten Kraftwerksbetreiber Einnahmen ausschließlich für den gelieferten Strom; ein Kapazitätsmarkt hingegen vergütet bereits die Bereitschaft zur Stromerzeugung. Praktisch bedeutet das: Kraftwerksbetreiber bekommen Geld dafür, dass sie im Bedarfsfall Strom liefern können, selbst wenn sie letztlich gar nicht zum Einsatz kommen. Dieser Ansatz ähnelt einer Art Versicherung für das Stromsystem – er stellt sicher, dass stets genug Reserveleistung vorhanden ist, um Nachfragespitzen oder Flauten bei Wind und Sonne abzufedern.
Dieser Mechanismus kommt bereits in anderen Ländern zum Einsatz. So existiert in Frankreich schon seit 2017 ein Kapazitätsmarkt in Form eines Zertifikatsystems. Versorger müssen dort Jahr für Jahr Kapazitätszertifikate nachweisen, die garantieren, dass eine bestimmte Menge Kraftwerksleistung für Spitzenlastzeiten bereitsteht. Dieses System wurde eingeführt, nachdem kalte Winterperioden in den Jahren 2012 und 2017 mit hohem Heizstrombedarf zu Engpässen führten – ein Temperaturabfall von einem Grad Celsius (°C) erhöht in Frankreich die Energielast um etwa 2400 Megawatt (MW). Der Kapazitätsmarkt soll solche Situationen abfedern, indem er Kraftwerksbetreiber dafür entlohnt, ausreichend Reserven für Bedarfsspitzen bereitzuhalten.

Wie funktioniert der Strommarkt aktuell?
Derzeit basiert der deutsche Strommarkt weitgehend auf dem Energy-Only-Modell. Das heißt, gehandelt und bezahlt wird ausschließlich tatsächlich erzeugter Strom. Angebot und Nachfrage bestimmen den Strompreis, und Kraftwerksbetreiber verdienen nur dann Geld, wenn ihre Anlage läuft. Reservekapazitäten, also Kraftwerke in Wartestellung, werden im reinen Energy-Only-Markt nicht vergütet. Dieses System hat seit der Liberalisierung Ende der 1990er-Jahre gut funktioniert, doch die Rahmenbedingungen ändern sich durch die Energiewende grundlegend.
Erfahren Sie mehr über den Strommarkt in unserem Artikel „Wie funktioniert der Strommarkt?“.
Der aktuelle Marktaufbau sieht so aus: Strom wird überwiegend an Börsen oder per Direktvertrag gehandelt. Zusätzlich existieren besondere Märkte für kurzfristige Balance, zum Beispiel verschiedene Reserven, um Engpässe abzufedern. Diese Instrumente sind jedoch ergänzend, während das Grundprinzip bleibt: Neue Kraftwerke müssen sich durch Stromverkäufe finanzieren.
Genau hier tritt das sogenannte Missing-Money-Problem auf: In einem Markt mit immer mehr erneuerbaren Energien – die günstigen und klimafreundlichen Strom liefern, aber meist abhängig von Wind und Sonne sind – laufen konventionelle Kraftwerke seltener. Spitzenlastkraftwerke wie beispielsweise Gaskraftwerke würden nur an wenigen Stunden im Jahr Strom verkaufen, nämlich wenn die Erneuerbaren den Bedarf nicht decken könnten, und müssten in diesen kurzen Zeitfenstern genug verdienen, um Bau- und Fixkosten zu decken. Das ist für Investor:innen unattraktiv und riskant – niemand betreibt ein Kraftwerk, das die meiste Zeit still steht, wenn unklar ist, ob wenige hohe Strompreisspitzen die Kosten einspielen können.
Es fehlen also marktwirtschaftliche Anreize, in Reservekapazität zu investieren. Einige Expert:innen argumentieren, dass das aktuelle Modell an seine Grenzen stoßen könnte und ohne zusätzliche Anreize Lücken in der Versorgung entstehen könnten, wenn der Ausbau erneuerbarer Energieanlagen nicht schneller vorangetrieben werde. Laut einer Studie, die das Beratungsunternehmen enervis im Auftrag der Gas- und Wasserstoffwirtschaft durchgeführt hat, könnten Stromlücken bis 2030 auftreten, da es an Kapazitätszubau zur Stromerzeugung, die auch dann zur Verfügung steht, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, fehle.
Durch den Atomausstieg und den geplanten Kohleausstieg gingen mehr als 30 Gigawatt (GW) gesicherte Kraftwerksleistung vom Netz, während die Spitzenlast auf rund 98 GW steige. Nach diesem Szenario fehlen 2031 mindestens etwa 15 GW an gesicherter Leistung, wenn keine neuen Kraftwerke gebaut werden. Als eine Art Übergangslösung könnte der Kapazitätsmarkt diese potenzielle Versorgungslücke ausgleichen, bis genügend Ersatzkapazitäten aus erneuerbaren Energieanlagen zur Verfügung steht.
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Welche Optionen gibt es bei der Einführung eines Kapazitätsmarktmodells?
Ein Kapazitätsmarkt kann auf verschiedene Weise gestaltet werden. Das Bundeswirtschaftsministerium hat 2024 vier grundlegende Optionen für einen zukünftigen Kapazitätsmechanismus skizziert:
1. Spitzenpreis-Hedging (Peak-Price-Hedging)
Statt einen separaten Kapazitätsmarkt einzuführen, könnte man extreme Strompreisspitzen absichern. Dieses Modell würde Produzenten durch eine Art Versicherung oder Preisgarantie für seltene Lastspitzen Einnahmesicherheit bieten. Vereinfacht gesagt: Steigt der Strompreis über einen definierten Schwellenwert, greift ein Ausgleichsmechanismus – das schafft Planungssicherheit für Erzeuger und schützt Verbraucher:innen vor übermäßigen Kosten. Dieses Modell belässt den Strommarkt grundsätzlich im Energy-Only-Modus, fängt aber Ausreißer ab.
2. Dezentraler Kapazitätsmarkt
Hier läge die Verantwortung bei den Energieversorgern selbst (dezentral bei vielen Akteuren). Stromanbieter müssten sicherstellen und nachweisen, dass sie genügend Reserven für ihre Kund:innen bereitstellen können. Dies erfolgt oft über Kapazitätszertifikate oder Leistungsnachweise. Anbietende und Nachfragende von Kapazität handeln miteinander – zum Beispiel müssen Versorger eigene Kapazitäten vorhalten, sofern sie darüber verfügen, oder Zertifikate entsprechend ihrem Anteil an der Spitzenlast kaufen, während Kraftwerksbetreiber Zertifikate anbieten. Frankreich nutzt ein solches dezentrales System: Versorger verpflichten sich ein Jahr im Voraus, ausreichende Kapazitäten zu erwerben, um ihre Verbrauchsspitzen abzudecken. Vorteil dieses Modells ist die Marktorientierung – jeder Versorger optimiert selbst, wie er seine Kapazitätsverpflichtung erfüllt. Allerdings ist das System komplex und hat sich bislang kaum durchgesetzt.
3. Zentraler Kapazitätsmarkt
Bei dieser Variante organisiert eine zentrale Stelle, etwa der Staat oder der Übertragungsnetzbetreiber, regelmäßige Auktionen, um den Kapazitätsbedarf des gesamten Stromsystems abzudecken. Es wird also zentral festgelegt, wie viel Reserveleistung gebraucht wird, und diese wird in Wettbewerbsverfahren an Kraftwerke, Speicher oder Lastmanagementanbieter vergeben. Dieses Modell ähnelt dem, das Länder wie Großbritannien, Belgien oder Polen eingeführt haben. Beispielsweise hält Großbritannien jährliche Auktionen ab, in denen Kraftwerksbetreiber Gebote abgeben, um Kapazitätsverträge zu erhalten. Neue Kraftwerke bekommen dort oft mehrjährige Verträge (in Großbritannien bis zu 15 Jahre), was Investitionsanreize schafft. Die zentrale Koordination soll sicherstellen, dass genau die benötigte Menge an Reserveleistung beschafft wird.
4. Kombiniertes Modell (Hybrid)
Diese Option verbindet Elemente des zentralen und dezentralen Ansatzes. So könnte etwa ein Grundbedarf zentral via Auktionen gedeckt werden, während zusätzliche Kapazitätsverpflichtungen dezentral auf Versorger verteilt werden. Die alte Bundesregierung tendierte in einem Optionspapier zunächst zu so einem hybriden Modell. Die Hoffnung war, Vorteile beider Ansätze zu vereinen – allerdings warnen Expert:innen, dass eine Kombination auch sehr komplex und fehleranfällig sein kann. Unterschiedliche Mechanismen parallel – zentrale Ausschreibungen mit langen Vorläufen und kurzfristig handelbare Zertifikate auf dezentraler Ebene – könnten zu Unsicherheiten und Preisschwankungen führen. Hinzu kommt: Ein neues System müsste von der EU beihilferechtlich genehmigt werden. Für besonders innovative Modelle ist diese Genehmigung jedoch ungewiss.
Neben diesen Modellen gibt es auch die Alternative, ganz auf einen Kapazitätsmarkt zu verzichten und stattdessen nur eine strategische Reserve einzuführen. Dabei würden ausgewählte Kraftwerke außerhalb des Strommarkts gegen Bezahlung in Bereitschaft gehalten – sie kämen nur dann zum Einsatz, wenn die reguläre Stromversorgung nicht mehr ausreicht, um die Netzstabilität zu gewährleisten. Deutschland hat bereits ab 2020/21 eine solche strategische Reserve ergänzend zum Energy-Only-Markt eingerichtet. Im Unterschied zum Kapazitätsmarkt, der alle verfügbaren Kapazitäten einbezieht, bleiben Reservekraftwerke jedoch vom normalen Markt getrennt. Die aktuelle Diskussion dreht sich aber vor allem um die zuvor genannten marktweiten Kapazitätsmechanismen.

Wo gibt es bereits Kapazitätsmärkte?
Kapazitätsmärkte sind kein theoretisches Konstrukt – in mehreren Ländern sind sie bereits Realität. Ein Blick ins Ausland zeigt unterschiedliche Ausgestaltungen: Wie weiter oben bereits erwähnt setzt Frankreich bereits seit 2017 auf ein dezentrales Zertifikatmodell. Auch Belgien hat kürzlich einen zentralen Kapazitätsmarkt etabliert. Hintergrund ist der geplante Kernenergieausstieg bis 2025: Belgien möchte ausreichend Gaskraftwerke und Speicher in Reserve haben. Die erste Auktion dort fand 2021 statt. Belgien war in der EU Vorreiter bei der Genehmigung eines solchen Marktes und verweist darauf, Engpässe kosteneffizienter als mit Ad-hoc-Maßnahmen lösen zu können. Der belgische Übertragungsnetzbetreiber Elia ist dabei für die Ausführung des Kapazitätsmechanismus verantwortlich. Auch für deutsche Anlagenbetreiber kann dies interessant sein, da die EU-Kommission im Rahmen des „Clean Energy Package“-Legislativpaketes (CEP) Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Teilnahme ausländischer Anlagen festgelegt hat. Die deutschen Übertragungsnetzbetreiber unterstützen Elia bei der Umsetzung und stehen Anlagenbetreibern in Deutschland als Ansprechpartner zur Verfügung.
Neben Großbritannien, Belgien, Italien und Polen (alle zentral organisiert) verfügt auch Irland gemeinsam mit Nordirland über einen Kapazitätsmarkt im Rahmen seines All-Island-Marktes. Spanien plant derzeit die Einführung – dort ist ein Kapazitätsmarkt im Gesetzgebungsprozess.
Zusammengefasst haben sich in Europa zentrale Kapazitätsmärkte als Standardlösung etabliert. Dezentral zertifikatbasierte Modelle wie in Frankreich blieben die Ausnahme. Wichtig ist, dass Kapazitätsmärkte immer an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst wurden: zum Beispiel durch Ausschluss von alten Kohlekraftwerken, denn nach EU-Regelung gibt es keine Förderung für Anlagen mit einem Ausstoß von unter 550 g CO₂/kWh. Diese Erfahrungen fließen in die deutsche Debatte ein, damit ein hiesiger Kapazitätsmarkt kompatibel mit den Klimazielen ist und effektiv neue, saubere Kraftwerke anreizt.
Vor- und Nachteile: Kapazitätsmarkt vs. Energy-Only-Markt
Die Einführung eines Kapazitätsmarkts wäre eine grundlegende Änderung des Strommarktdesigns. Welche Vorteile verspricht man sich davon, und welche Nachteile stehen dem gegenüber? Im Folgenden ein Vergleich der beiden Ansätze:
Vorteile eines Kapazitätsmarkts:
Ein weiterer Vorteil gegenüber einer reinen staatlichen Reserve: Betreibende haben weiterhin den Anreiz zur Dekarbonisierung ihrer Anlagen, da sie im Markt konkurrieren – im Gegensatz zur strategischen Reserve, wo alte Kraftwerke jahrelang gegen Bezahlung vorgehalten werden, ohne in Emissionsminderung investieren zu müssen.
Nachteile eines Kapazitätsmarkts:
Ein Kapazitätsmarkt erhöht also die Versorgungssicherheit und schafft Investitionssicherheit – das ist in Zeiten der Energiewende ein großer Pluspunkt. Dem stehen jedoch potenzielle Mehrkosten, Steuerungsrisiken und die Gefahr eines Übermaßes an Reserven gegenüber. Viele Ökonom:innen plädieren dafür, Kapazitätsmechanismen nur so groß wie nötig zu dimensionieren und sie technologieoffen und wettbewerblich zu gestalten, um die Nachteile zu minimieren. Das endgültige Für und Wider hängt stark von der konkreten Ausgestaltung ab.
Welche Bedeutung haben Großbatteriespeicher für den Kapazitätsmarkt?
Großbatteriespeicher haben eine doppelte Bedeutung: Sie erhöhen die Versorgungssicherheit und unterstützen gleichzeitig die Dekarbonisierung. Durch ihre Teilnahme am Kapazitätsmarkt verringern sie die Notwendigkeit, fossile Kraftwerke als Reserve zu bauen, und senken somit Kosten und Emissionen. Zudem fördern sie Innovation im Stromsystem, da sie zeigen, dass Versorgungssicherheit nicht allein von Großkraftwerken kommt, sondern auch von intelligenten neuen Technologien. In einer zunehmend erneuerbaren Stromversorgung können Batterien zum „Rückgrat“ der Kapazität werden, indem sie schnelle und saubere Reserveleistung liefern. Oder anders formuliert: Batteriespeicher spielen eine wichtige Rolle, indem sie die Notwendigkeit zusätzlicher Gaskraftwerke verringern und gleichzeitig Kosten und CO₂-Emissionen reduzieren.
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